Was genau sie besprachen, blieb bis auf ein paar öffentliche Stellungnahmen auf Wunsch der Teilnehmer vertraulich. Ernannt hatte das Team am 9. Dezember 2021 Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD); zuvor hatten Wissenschaftler in einem offenen Brief auf die Einrichtung eines solchen Gremiums gedrängt. Die Pandemiebekämpfung, so hieß es damals, sollte „eine stärkere Sachgrundlage“ erhalten.
Das konnte vor allem deshalb nicht klappen, weil sich Ratsmitglieder Meinungen und Urteile anmaßten, die außerhalb ihrer Fachgebiete lagen, kritisiert der Epidemiologe Klaus Stöhr nach Lektüre der Protokolle: „Die Aufgabenstellungen an die einzelnen Mitglieder waren offensichtlich unklar, sodass sie die Grenzen ihrer Fachkompetenzen überschritten“, urteilt Stöhr. Misslich sei, dass „Personen, die die Situation auf den Intensivstationen analysierten oder sich mit Modellen der Infektionsentwicklung beschäftigten, zugleich Vorschläge machten, wie man die Maßnahmen einsetzen oder wie die Kommunikation zu verbessern sei“.
Kein Wort über eine Exit-Strategie
So könne ein Epidemiologe einem Intensivmediziner doch nicht empfehlen, wie der seine Station zu organisieren habe oder umgekehrt. Stöhr kritisiert auch die Zusammensetzung des Gremiums.: „Warum waren gleich zwei Physiker an Bord, aber kein Altersmediziner?“ Auch sieht er die Unabhängigkeit des Gremiums kompromittiert. Laut Protokoll war bei allen Sitzungen Gesundheitsminister Karl Lauterbach oder einer seiner Vertreter dabei. Das habe durchaus als Aufsicht verstanden werden können, ebenso die Präsenz von Wieler, der als RKI-Chef dem Gesundheitsminister untersteht.
Auffällig ist auch, dass gemäß der nun vorliegenden Unterlagen Regierung und Minister offenbar keine konkreten Aufgaben für die Experten hatten. „Es fehlt die Forderung nach Alternativvorschlägen samt einer Übersicht der Vor- und Nachteile“, so Stöhr. Während der 25 Sitzungen kam ein entscheidendes Thema kaum auf den Tisch – das Ende der Pandemie. Wie könnte, wie sollte eine sanfte Exit-Strategie aussehen? Darüber wurde nicht gesprochen.
Der Virologe und Epidemiologe Alexander Kekulé stößt sich nach der Protokoll-Lektüre am niedrigen Niveau der Beratungen: „Viel Zeit wurde für gegenseitige Information über ohnehin bekannte Tatsachen verwendet“, kritisierte er, gesteht aber „schwierige Bedingungen“ zu, weil gegen Ende der Pandemie „die Bevölkerung von den Maßnahmen ermüdet“ gewesen sei.
Bis zuletzt habe der Expertenrat die Gefahr durch Omikron überschätzt, forderte unangemessen harte und noch härtere Maßnahmen und war dann enttäuscht, wenn sie nicht kamen wie empfohlen. „Man war verärgert“, so Kekulé, „dass ab März 2022 gelockert wurde. Als dann die Krankheitslast zurückging und es seit Frühjahr 2022 nicht einmal eine erhöhte Zahl von Atemwegserkrankungen gab, zeigte sich die Mehrheit im Expertenrat offenbar überrascht“.
„Die Begründung für die Schwärzungen wirkt sehr vorgeschoben“
War also die Experten-Runde doch nicht so ausgewogen besetzt, wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach gleich zu Anfang behauptet hatte? Immerhin gehörten mit der Virologin Melanie Brinkmann und dem Physiker Michael Meyer-Hermann gleich zwei führende Köpfe der „No Covid“-Strategie zum Rat. Beide waren schon im Vorgängerteam Angela Merkels für schärfste Maßnahmen eingetreten. Mit dem Virologen Hendrik Streeck war nur ein Berater mit an Bord, der aus dem „gemäßigten Lager“ kam. Letztlich vermisst Kekulé vor allem eines: „Gemäß den Protokollen wollte der Expertenrat eine selbstkritische Studie über seine Ratschläge und die Resonanz bei der Politik erstellen.“ Dazu sei es nicht gekommen.
Bemerkenswert sind auch die Auftritte Lauterbachs im Expertenrat. Zitat aus dem Protokoll: „BM Lauterbach berichtet über die Schwierigkeiten bei der politischen Debatte zur allgemeinen Impfpflicht.“ Auch formal nutzt der Minister den Expertenrat als politische Bühne. Während einer Sitzung ist dem Minister sogar ein eigener Tagesordungspunkt gewidmet. Was dort zur Sprache kommen sollte, bleibt unklar – denn der Minister erscheint an dem Tag nicht.
Seinen Auftritt bekommt er dafür am 12. Januar 2022, im Protokoll vermerkt mit dem Hinweis: „BM Lauterbach erklärt die Bedeutung des CT-Wert von 30.“ Mit anderen Worten: Im dritten Jahr der Pandemie hält der Gesundheitsminister es für geboten, seinen Experten einen Vortrag über die Grundlagen des PCR-Tests zu halten. Über die Reaktionen in der Runde findet sich im Protokoll kein Vermerk.
Große Teile der Protokolle sind geschwärzt, im Bundeskanzleramt begründet man das mit der emotional wie auch politisch stark aufgeladenen Debatte und verweist auf die Reichsbürger- und Querdenkerszene. Mitglieder, die für besonders einschneidende Maßnahmen plädiert hätten, könnten zur Zielscheibe werden. „Eine Gewährung des Informationszugangs ohne Schwärzung des Urhebers von Sitzungsbeiträgen würde die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und das Leben der Mitglieder und Gäste des Corona-Expertenrats derart konkret gefährden, dass die Informationsbelange des Klägers dahinter zurückstehen müssen“, heißt es in dem Begleitschreiben des Kanzleramts.
Allerdings ist auch die Diskussion über die Wirksamkeit der Impfstoffe geschwärzt. Ein wunder Punkt im Gesundheitsministerium, das enorme Überbestände an Impfdosen angehäuft hatte? Die Begründung des Kanzleramts hierzu: „Um die wirtschaftlichen Interessen des Bundes nicht zu gefährden.“ Auch der Schutz der diplomatischen Beziehungen zu China und der Ukraine habe bei manchen Schwärzungen eine Rolle gespielt.
Zumindest rechtlich seien die vielen unkenntlichen Protokollpassagen fragwürdig, moniert der Oldenburger Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler. Nur im Ausnahmefall dürften Informationen aus dem staatlichen Bereich geheim gehalten werden, wenn es um den Schutz anderer wichtiger Interessen gehe. „Im Zweifel wird geschwärzt – das scheint die Maxime der Beamten gewesen zu sein.“ Das beschädige das Vertrauen in den Staat weiter und nähre den Verdacht, dass etwas vertuscht werden solle. „Es ist das exakte Gegenteil von offener Aufarbeitung der Corona-Krise“, so Boehme-Neßler.
Dass die Namen der Experten geschwärzt werden müssten, um sie vor Reichsbürgern und Querdenkern zu schützen, hieße letztlich, „dass selbst der Staat seine Experten nicht schützen kann, wenn sie bestimmte Meinungen äußern“. Politikberatung sei aber „keine Geheimwissenschaft“, die Öffentlichkeit müsse wissen, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage die Corona-Maßnahmen getroffen wurden.
Möglicherweise hätten sich tief greifende Grundrechtseingriffe auf Erkenntnisse gestützt, „die sich als völlig falsch erwiesen haben.“ Das Fazit des renommierten Staatsrechtlers: „Die Begründung für die Schwärzungen wirkt sehr vorgeschoben.“
Von den 33 Sitzungen des Expertenrats liegen derzeit nur 25 Protokolle vor. Christian Haffner und sein Anwalt Patrick Heinemann hoffen auf die übrigen in Kürze. Die Corona-Maßnahmen und wie sie zustande kamen, seien reif für die politische und wissenschaftliche Durchleuchtung, findet Heinemann, „um bei zukünftigen Pandemien angemessen und freiheitsschonend reagieren zu können. Wir haben ein Recht zu erfahren, was sich die Experten, die die Bundesregierung beraten haben, dabei gedacht haben“.
Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/
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